Wer sind die an uns vorbeiziehenden Menschen, die uns tagtäglich auf den Straßen begegnen? Was denken sie? Was fühlen sie?
Ein 80 jähriger Mensch einer Großstadt hat im Laufe seines Lebens im Schnitt 50 Millionen verschiedene Gesichter gesehen. 50 Millionen Augenblicke, Geschichten und Gedanken, die die Menschen verschwiegen in sich tragen, die an uns genauso natürlich und belanglos vorbeiziehen, wie Wolken am Himmel.
Ich wollte über einen unbestimmten Zeitraum hinweg in verschiedenen Großstädten diese vorbeistreifenden Momente bewusster wahrnehmen und bin in die Rolle des Flaneurs eingetaucht. Ein Flaneur, wie diese Bezeichnung vom Philosophen Walter Benjamin geprägt wurde, ist derjenige, der ohne Ziel, lange Zeit durch die Straßen streift. Schon bald tritt ein Rauschzustand ein, der es ermöglicht, Orte, Straßen und Personen auf eine veränderte, gar nicht mehr so alltägliche Weise wahrzunehmen. Walter Benjamin schrieb in seinem nie vollendeten Passagenwerk: „Der Flaneur geht auf dem Asphalt botanisieren.“ Der Unterschied zum Pflanzen sammeln bildet hier jedoch auch die Konfrontation mit dem Unbehagen, manchmal auch Ekel, der ungeschönten Stadt, dieser ehrlichsten aller Geschichten, die so viel zu erzählen hat. Diese Geschichten werden in Fragmenten erzählt, folgen in keiner Weise irgendwelchen Linearitäten. Darin liegt auch das Besondere meiner fotografischen Erzählung, die keinen Anfang und kein Ende kennt. Welche ist die daraus folgende Erkenntnis? Walter Benjamin schrieb:
„In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Erst die im Nachhinein erfolgende Reflexion ist der langnachrollende Donner.“
Der Flaneur versucht zu dechiffrieren, Eindrücke zu sammeln, obwohl er genau weiß, dass diese nicht mehr als Vermutungen sein werden. Aber die Ideen erscheinen ihm dennoch relevant und geistig erregend, denn nirgendwo sonst finden sich die oft so eigenartigen Konstellationen der Realität. Es entstehen Fragen, Andeutungen und Energien, die nachgedacht werden wollen. Ich habe vorwiegend das verewigt und für meinen fotografischen Kontext genutzt, was dem Menschen am Heiligsten ist. Das Gesicht, ein wichtiger Teil der Identität. Dabei interessiert in diesem Kontext nicht die tatsächliche Identität der abgebildeten Personen, sondern vielmehr die subjektive Interpretation jener Identitäten. Hierin besteht laut Walter Benjamin die Phantasmagorie des Flaneurs: das Ablesen des Berufs, der Herkunft, des Charakters von den Gesichtern. Die Fotografie steht in diesem Zusammenhang für einen Spiegel, der sich erinnert und zum reflektieren anregt.
Vielleicht erdet es einen, sich wieder mehr Zeit zu nehmen, zwischen A und B. Vielleicht hilft es, in dieser Welt der Schnelllebigkeit ab und an Inne zu halten und sich einigen dieser 50 Millionen Gesichter einen einzigen Augenblick lang zu widmen. Ohne Plan, Zweck oder Ziel, sondern einfach, um sich von alltäglich erscheinenden Momenten inspirieren zu lassen und etwas über die Gesellschaft, in der wir leben, zu erfahren.